Marlen Buri
#Schulmodell#Unterricht#Lernstörung#Verhaltensstörung#Entwicklungsaufgaben

In der normierten Stadt der Tausend Diagnosen

4. Februar 2025

"Den Unterricht von den schwächsten Schüler:innen aus denken, für die stärksten planen."

Das ist eine Devise, die mir im Studium begegnet ist und seither begleitet. Wer dies damals gesagt hat, weiss ich nicht mehr.

Wenn ich bei Schüler:innen Schwierigkeiten verschiedenster Art beobachte, versuche ich ihnen zu helfen. Ich will herausfinden, worin diese Schwierigkeiten bestehen. Sehr allgemein (und klassisch) formuliert entsprechen Kinder mit Schwierigkeiten oft in irgendeiner Art und Weise nicht "der Norm": Ihnen fehlen Fähigkeiten und Fertigkeiten, von denen Lehrpersonen von Kindern in diesem Alter in der Schule ausgeht, so ein Kind ist vielleicht viel gescheiter oder weniger gescheiter als man in dessen Alter erwartet, vielleicht gibt es zusätzliche Herausforderung aus dem Familienleben und manchmal bringt einfach der Umbau des Gehirns während der Pubertät alles durcheinander. Wir Menschen mögen es, wenn wir die Welt in schöne beschrifteten Schubladen aufteilen können. Das hilft beim Lösen von Herausforderungen. Als Lehrperson sind diese Schubladen auch wichtig, weil ich so Kindern manchmal eine Extraportion Unterstützung durch Fachpersonen organisieren kann, eine Begleitung durch die Schulsozialarbeit oder Begleitung durch eine IF-Lehrperson (aka individuelle Förderung), wofür Lektionen/Geld gesprochen werden muss.

Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen

Vom Wohn- und Schulheim Guggisberg gibt es eine wunderbare Übersicht über Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen von 13 bis 17 in den Bereichen Schule, Berufswahl, Körperliche Entwicklung, Sexualität, Geschlechterrolle, Beziehungen, Freizeit, Konsumverhalten, Umgang mit Autoritäten, Wertesystem, Ablösung, Identität. Eine Entwicklungsaufgabe bedeutet, mit bestimmte Situationen in einem bestimmten Alter umgehen zu lernen, lösen zu können.

Hier der Auszug zu den Schulbezogenen Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen von 13 bis 17.

Einige Schüler:innen kommen in die 7.Klasse und bringen vieles davon schon mit, andere brauchen noch Zeit, um sich die notwendigen Fähigkeiten anzueignen. Und da kommen jetzt wieder die Schubladen ins Spiel.

Lern- und Verhaltensstörungen: Beschreibungen, Zahlen, Daten, Fakten

Lernstörungen werden meist in einem institutionell-pragmatischen Sinne definiert, nämlich als Minderleistungen beim absichtsvollen Wissenserwerb in einer formalisierten Lernumgebung. Verhaltensstörungen bezeichnen hingegen maladaptive sozial-emotionale Reaktionen und Handlungsweisen. Sie sind dann als Zeichen einer Störung und nicht nur einer vorübergehenden Devianz zu werten. Ursachen- und Wirkungsfaktoren sind aufgrund der komplexen Wechselwirkungen in den meisten Fällen schlecht bis gar nicht voneinander zu trennen. An dieser Stelle folgt eine Liste von Lern- und Verhaltensstörungen mit Daten und Fakten. (Quellenangabe ganz unten). Diese Liste ist für mich wichtig zu kennen, einerseits um zusätzliche Unterstützung für einzelne Schüler:innen zu erhalten, andererseits, um mein Unterrichtskonzept so zu gestalten, dass auch diese Schüler:innen gerne in die Schule kommen und passende Möglichkeiten erhalten, um etwas zu lernen und auch zeigen zu können, dass sie etwas gelernt haben.

Die Prognosen bei Lernstörungen sind insgesamt relativ ungünstig. Rückstände wachsen sich nicht mit der Zeit aus, sondern werden im weiteren Verlauf der Schulkarriere immer grösser. Vor dem Ende der Grundschulzeit kommt es meist zu einer Chronifizierung der Problematiken. Ausserdem entwickeln 30 bis 50% der Schüler bei Lernstörungen zusätzlich gravierende Verhaltensauffälligkeiten (insbesondere soziale und hyperkinetische Störungen). Häufig ist es verhältnismässig schwierig, das durch eine mehr oder minder lange Historie an schulischen Misserfolgen entstandene negative Begabungsselbstbild zu verändern und eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung und Leistungsmotivation aufzubauen. Die verschiedenen Formen externalisierender und internalisierender Störungen kommen oft miteinander vergesellschaftet vor. So geht die Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung zu 30-90% mit oppositionellem Trotzverhalten und Störungen des Sozialverhaltens einher. Bei ca. 14% der Kinder mit oppositionellem Trotzverhalten liegen Angststörungen vor, während depressive Störungen mit 9% weniger vorkommen. Insgesamt sind ca. ein Drittel der Kinder mit Störungen im Sozialverhalten von verschiedenen Formen emotionaler Störungen betroffen. Die Rate der betroffenen Mädchen, die ohnehin ein höheres Risiko für die Entwicklung ängstlich-depressiver Symptomatiken haben, dürfte noch höher liegen. ⅔ bis ¾ der Mädchen mit Störungen des Sozialverhaltens haben ergänzende internalisierende Problematiken.

Lern- und Verhaltensstörungen erhöhen das Risiko von Schulversagen. Die schwerste Form von Schulversagen ist der frühzeitige Schulaustritt. In Europa wird jährlich von 18.5% der Jugendlichen die obligatorische Schulzeit nicht erfüllt. In der Schweiz werden die sogenannten «Dropouts» nicht vom Bundesamt für Statistik erfasst, die Stadt Zürich ging im Jahr 2006 jedoch von 200 Schulabbrechern aus, das sind etwa 12%. Eine Schweizerischer Nationalfonds-Studie 2009 nennt 5% massive Schulschwänzern und 4% Schulabbrecher. Auch verlässliche Statistiken dazu, wieviele Schüler:innen eine oder mehrere Lern- oder Verhaltensstörungen diagnostiziert haben, habe ich nicht gefunden. Aufgrund verschiedener Veröffentlichungen, kann ich davon ausgehen, dass sicher ein Drittel einer Klasse aufgrund einer oder mehreren Lern- oder Verhaltensstörungen einen Anspruch auf einen Nachteilsausgleich hat. In diesen Zahlen sind jene Kinder nicht eingeschlossen, deren Belastung als zu gering oder zu wenig lange anhaltend beurteilt wird.

Wenn wir in unserem Unterrichtskonzept die Ursachen von Lern- und Verhaltensstörungen berücksichtigen, wird eine erfolgreiche Schulkarierre für einen grösseren Teil einer Klasse wahrscheinlich. Damit meine ich nicht einfach gute Noten, sondern vorallem auch das Erreichen der Entwicklungsaufgaben.

Quellen:

Entwicklungsaufgaben in der Jugend: https://de.cdn-website.com/0eee2e4785124c8f85acbb81fc402de5/files/uploaded/072DokumentationEntwicklungsaufgabenundFahigkeitenA4.pdf

Daten und Fakten zu Lernstörungen: https://www.beltz.de/fileadmin/beltz/leseproben/9783621276351.pdf

Eine Übersicht über die Erforschung von Underachievern: https://www.pedocs.de/volltexte/2021/3688/pdf/SZBW_2006_H3_S467_Stamm_Underachievement.pdf

Informationen zu Schulversagen und Schulabbruch: https://www.svsuri.ch/uploads/PDF-sonstige/MAS-Arbeit_Schulabbruch-Herausforderungen-beim-Uebergang-ins-Berufsleben-ohne-Anhang.pdf