"Den Unterricht von den schwächsten Schüler:innen aus denken, für die stärksten planen."
Das ist eine Devise, die mir im Studium begegnet ist und seither begleitet. Wer dies damals gesagt hat, weiss ich nicht mehr.
Wenn ich bei Schüler:innen Schwierigkeiten verschiedenster Art beobachte, versuche ich ihnen zu helfen. Ich will herausfinden, worin diese Schwierigkeiten bestehen. Sehr allgemein (und klassisch) formuliert entsprechen Kinder mit Schwierigkeiten oft in irgendeiner Art und Weise nicht "der Norm": Ihnen fehlen Fähigkeiten und Fertigkeiten, von denen Lehrpersonen von Kindern in diesem Alter in der Schule ausgeht, so ein Kind ist vielleicht viel gescheiter oder weniger gescheiter als man in dessen Alter erwartet, vielleicht gibt es zusätzliche Herausforderung aus dem Familienleben und manchmal bringt einfach der Umbau des Gehirns während der Pubertät alles durcheinander. Wir Menschen mögen es, wenn wir die Welt in schöne beschrifteten Schubladen aufteilen können. Das hilft beim Lösen von Herausforderungen. Als Lehrperson sind diese Schubladen auch wichtig, weil ich so Kindern manchmal eine Extraportion Unterstützung durch Fachpersonen organisieren kann, eine Begleitung durch die Schulsozialarbeit oder Begleitung durch eine IF-Lehrperson (aka individuelle Förderung), wofür Lektionen/Geld gesprochen werden muss.
Vom Wohn- und Schulheim Guggisberg gibt es eine wunderbare Übersicht über Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen von 13 bis 17 in den Bereichen Schule, Berufswahl, Körperliche Entwicklung, Sexualität, Geschlechterrolle, Beziehungen, Freizeit, Konsumverhalten, Umgang mit Autoritäten, Wertesystem, Ablösung, Identität. Eine Entwicklungsaufgabe bedeutet, mit bestimmte Situationen in einem bestimmten Alter umgehen zu lernen, lösen zu können.
Hier der Auszug zu den Schulbezogenen Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen von 13 bis 17.
Schulweg selbständig und zuverlässig bewältigen
Eigenes Schulmaterial verwalten
Lehrpersonen als Autoritäten anerkennen
Mit eigenem und fremden Material sorgfältig umgehen
Sich in die Klasse integrieren
Kränkungen und Frustrationen bewältigen
Auf andere Rücksicht nehmen
Zuhören und sich mitteilen
Mit anderen produktiv zusammenarbeiten
Sich über eine längere Zeit konzentrieren
Sich flexibel auf neue Situationen einstellen
Leistungen erbringen wollen
Aufgaben selber gliedern und planen
Prüfungen termingerecht vorbereiten
Hausaufgaben selbständig erledigen
Um Hilfe nachfragen und annehmen
Eigene schulische Leistungen realistisch bewerten und sich selber loben oder anspornen
Fremdbewertungen als Rückmeldung produktiv verarbeiten
Den eigenen Lernstil erkennen und ggf. anpassen
Einige Schüler:innen kommen in die 7.Klasse und bringen vieles davon schon mit, andere brauchen noch Zeit, um sich die notwendigen Fähigkeiten anzueignen. Und da kommen jetzt wieder die Schubladen ins Spiel.
Lernstörungen werden meist in einem institutionell-pragmatischen Sinne definiert, nämlich als Minderleistungen beim absichtsvollen Wissenserwerb in einer formalisierten Lernumgebung. Verhaltensstörungen bezeichnen hingegen maladaptive sozial-emotionale Reaktionen und Handlungsweisen. Sie sind dann als Zeichen einer Störung und nicht nur einer vorübergehenden Devianz zu werten. Ursachen- und Wirkungsfaktoren sind aufgrund der komplexen Wechselwirkungen in den meisten Fällen schlecht bis gar nicht voneinander zu trennen. An dieser Stelle folgt eine Liste von Lern- und Verhaltensstörungen mit Daten und Fakten. (Quellenangabe ganz unten). Diese Liste ist für mich wichtig zu kennen, einerseits um zusätzliche Unterstützung für einzelne Schüler:innen zu erhalten, andererseits, um mein Unterrichtskonzept so zu gestalten, dass auch diese Schüler:innen gerne in die Schule kommen und passende Möglichkeiten erhalten, um etwas zu lernen und auch zeigen zu können, dass sie etwas gelernt haben.
Lese-Rechtschreibschwäche: 2.7% bei 8-jährigen Kindern, 5-10% bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Ca. 1% der Schüler:innen kann weder Lesen noch Rechtschreiben. Geschlechterverteilung Mädchen 2:3 Jungen. Ohne adäquate Intervention sind die Prognosen für risikobelastete Kinder sehr ungünstig. Erste Rückstände verfestigen sich im Laufe der ersten Schuljahre zu stabilen Defiziten. Im Jugendlichenalter treten Lese-Rechtschreibschwächen dann im Zuge andauernder schulischer Misserfolge häufig gemeinsam mit Störungen des Sozialverhaltens und einer erhöhten Delinquenzrate auf.
Rechenschwäche / Dyskalkulie: 4.4-6.7%. Mädchen sind doppelt so häufig betroffen wie Jungen. Rechenstörungen gehen selten mit externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten einher, stattdessen häufig mit Ängsten und Depressionen.
Kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten: 3%. Lese-Rechschreibschwäche und Rechenschwäche kombiniert.
Lernbehinderung: geschätzt wird 2.5%. In der Fachwelt wird der Begriff jeweils unterschiedlich verstanden: Lernbehinderung steht oftmals als Synonym für umfassendes Schulversagen oder dient als Label für Kinder und Jugendliche, die eine besondere Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen besuchen. Demgegenüber enthält eine etwas wissenschaftlichere und konkretere Definition des Phänomens relativ operationale Kriterien:(1) Es liegen Rückstände in verschiedenen Unterrichtsfächern (v. a. Deutsch und Mathematik) in der Grössenordnung von zwei bis drei Schuljahren vor, (2) die Schwierigkeiten persistieren über mehrere Jahre, (3) die Allgemeinintelligenz ist reduziert und (4) spezifische Förderbemühungen in der Regelschule haben keine zureichenden Lernfortschritte zur Folge.
Underachiever: 5-10%. Überdurchschnittliche Intelligenz bei bestenfalls normalen Schulleistungen. Ursachen für dieses Phänomen sind vielfältig. Ein negatives Selbstbild ist eines der am häufigsten beschriebenen Charakteristika.
Oppositionelles Trotzverhalten: Bei 9-15-jährigen 4.5% Jungen und 2.5% Mädchen. Wenn ein Kind andauernd (seit wenigstens sechs Monaten), beständig und in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmass aufbrausend, empfindlich und uneinsichtig für eigenes Fehlverhalten ist, sich häufig mit Erwachsenen streitet, sich Anweisungen oder Regeln von Erwachsenen widersetzt und andere häufig absichtlich verärgert und beleidigt, so dass bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen oder schulischen bzw. beruflichen Funktionsbereichen festzustellen sind. Einer Störung mit oppositionellem Trotzverhalten geht häufig eine ADHS voraus.
Störung des Sozialverhaltens: 7-9% der 12-17-jährigen. Rechte anderer Menschen werden wiederholt und anhaltend verletzt und gesellschaftliche Normen und Regeln gebrochen. Dies geschieht, indem aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Tieren (wie Schlägereien, Tierquälerei, Einsatz von Waffen, Erzwingen sexueller Handlungen) gezeigt und, z.B. mittels Brandstiftung, Eigentum zerstört wird. Die betreffenden Kinder und Jugendlichen betrügen, verüben Einbrüche, stehlen, bleiben auch schon vor ihrem 13. Lebensjahr wiederholt über Nacht weg und schwänzen häufig die Schule. Frühe Symptomatiken proaktiver Aggressionen und häufige gewalttätige Streitereien sind Prädiktoren für die Entstehung einer Störung des Sozialverhaltens.
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS): 3-6% der Schulkinder. Einerseits durch Verhaltensprobleme aus dem Bereich unaufmerksamen Verhaltens und andererseits durch übermässiges hyperaktiv-impulsives Verhalten gekennzeichnet und wird durch mehrere Zuweisungs- bzw. Ausschlussmerkmale erfasst. Die Prognose für ADHS fällt schlecht aus, wenn ergänzend aggressives Verhalten gegenüber Erwachsenen, niedriger IQ, schwache Beziehungen zu Gleichaltrigen und ein Überdauern der Kardinalsymptomatiken vorliegen. Bei 25-40% der betroffenen Erwachsenen konnten antisoziale bzw. delinquente Verhaltensweisen festgestellt werden. In erhöhtem Ausmass wurden zudem wenige bzw. konfliktreiche Sozialbeziehungen sowie Drogenmissbrauch bei heranwachsenden aufmerksamkeitsgestörten Kindern registriert.
Angststörungen: 10%. Angststörungen persistieren häufig bis ins Erwachsenenalter und sie stellen ein beträchtliches Risiko für die Entwicklung weiterer psychischer Störungen dar. Allerdings lassen sich Angststörungen im Kindesalter therapeutisch aussichtsreicher behandeln als externalisierende Verhaltensstörungen.
Trennungsangst: Zum Teil halten Trennungsängste bis ins Schulalter an und stellen die häufigste Form der Schulangst dar.
Soziale Angst: eine übersteigerte Form der Schüchternheit dar, gekennzeichnet durch eine (wiederum) irrationale Angst vor negativen Bewertungen. Die betreffenden Kinder haben Angst vor dem Kontakt mit und dem Sprechen vor Anderen, vor allem in Gruppen und in der Öffentlichkeit. Sie zeigen ein weit reichendes Vermeidungsverhalten, das je nach Kontext stark variieren kann (z. B. im Kontakt mit Kindern des jeweils anderen Geschlechts oder besonders mit den gleichaltrigen Kindern desselben Geschlechts). Soziale Angst zeigt sich v. a. in der Schule und stellt nach der Trennungsangst die zweithäufigste Form der Schulangst dar. In der Schule manifestiert sich die Bewertungsangst auch im Bereich der Schulleistungsanforderungen als Prüfungsangst.
Generalisierte Angststörung: Zur Symptomatik gehören permanente Befürchtungen und Sorgen über ein breites Spektrum hinweg. Das Angsterleben zeigt sich bei Kindern stark körperlich in Form von Nervosität, permanenter körperliche Unruhe und Anspannungen. Hinzu kommt eine vegetative Übererregbarkeit in Form von Schwitzen, Schwindel, Mundtrockenheit u. ä.
Depressiven Episode / Major Depression: 3-10% zwischen 12 und 17 Jahren. Phasenhaft gedrückte Stimmung und eine Verminderung von Antrieb und Aktivität. Prognostisch bestehen Risiken hinsichtlich einer Drogen- und Alkoholsucht sowie das Risiko einer erhöhten Suizidalität
Dysthyme Störung: eine chronische über Jahre andauernde und im Unterschied zur depressiven Episode weniger stark ausgeprägte depressive Verstimmung.
Die Prognosen bei Lernstörungen sind insgesamt relativ ungünstig. Rückstände wachsen sich nicht mit der Zeit aus, sondern werden im weiteren Verlauf der Schulkarriere immer grösser. Vor dem Ende der Grundschulzeit kommt es meist zu einer Chronifizierung der Problematiken. Ausserdem entwickeln 30 bis 50% der Schüler bei Lernstörungen zusätzlich gravierende Verhaltensauffälligkeiten (insbesondere soziale und hyperkinetische Störungen). Häufig ist es verhältnismässig schwierig, das durch eine mehr oder minder lange Historie an schulischen Misserfolgen entstandene negative Begabungsselbstbild zu verändern und eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung und Leistungsmotivation aufzubauen. Die verschiedenen Formen externalisierender und internalisierender Störungen kommen oft miteinander vergesellschaftet vor. So geht die Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung zu 30-90% mit oppositionellem Trotzverhalten und Störungen des Sozialverhaltens einher. Bei ca. 14% der Kinder mit oppositionellem Trotzverhalten liegen Angststörungen vor, während depressive Störungen mit 9% weniger vorkommen. Insgesamt sind ca. ein Drittel der Kinder mit Störungen im Sozialverhalten von verschiedenen Formen emotionaler Störungen betroffen. Die Rate der betroffenen Mädchen, die ohnehin ein höheres Risiko für die Entwicklung ängstlich-depressiver Symptomatiken haben, dürfte noch höher liegen. ⅔ bis ¾ der Mädchen mit Störungen des Sozialverhaltens haben ergänzende internalisierende Problematiken.
Lern- und Verhaltensstörungen erhöhen das Risiko von Schulversagen. Die schwerste Form von Schulversagen ist der frühzeitige Schulaustritt. In Europa wird jährlich von 18.5% der Jugendlichen die obligatorische Schulzeit nicht erfüllt. In der Schweiz werden die sogenannten «Dropouts» nicht vom Bundesamt für Statistik erfasst, die Stadt Zürich ging im Jahr 2006 jedoch von 200 Schulabbrechern aus, das sind etwa 12%. Eine Schweizerischer Nationalfonds-Studie 2009 nennt 5% massive Schulschwänzern und 4% Schulabbrecher. Auch verlässliche Statistiken dazu, wieviele Schüler:innen eine oder mehrere Lern- oder Verhaltensstörungen diagnostiziert haben, habe ich nicht gefunden. Aufgrund verschiedener Veröffentlichungen, kann ich davon ausgehen, dass sicher ein Drittel einer Klasse aufgrund einer oder mehreren Lern- oder Verhaltensstörungen einen Anspruch auf einen Nachteilsausgleich hat. In diesen Zahlen sind jene Kinder nicht eingeschlossen, deren Belastung als zu gering oder zu wenig lange anhaltend beurteilt wird.
Wenn wir in unserem Unterrichtskonzept die Ursachen von Lern- und Verhaltensstörungen berücksichtigen, wird eine erfolgreiche Schulkarierre für einen grösseren Teil einer Klasse wahrscheinlich. Damit meine ich nicht einfach gute Noten, sondern vorallem auch das Erreichen der Entwicklungsaufgaben.
Quellen:
Entwicklungsaufgaben in der Jugend: https://de.cdn-website.com/0eee2e4785124c8f85acbb81fc402de5/files/uploaded/072DokumentationEntwicklungsaufgabenundFahigkeitenA4.pdf
Daten und Fakten zu Lernstörungen: https://www.beltz.de/fileadmin/beltz/leseproben/9783621276351.pdf
Eine Übersicht über die Erforschung von Underachievern: https://www.pedocs.de/volltexte/2021/3688/pdf/SZBW_2006_H3_S467_Stamm_Underachievement.pdf
Informationen zu Schulversagen und Schulabbruch: https://www.svsuri.ch/uploads/PDF-sonstige/MAS-Arbeit_Schulabbruch-Herausforderungen-beim-Uebergang-ins-Berufsleben-ohne-Anhang.pdf